Interview mit Anne Schönharting

Die mehrfach ausgezeichnete Fotografin Anne Schönharting (* 1973 in Meißen) ist seit 1999 Mitglied der Agentur Ostkreuz und arbeitet neben ihren eigenen künstlerischen Langzeitprojekten im Auftrag für nationale und internationale Auftraggeber. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen den Genres Portraitfotografie, künstlerische Dokumentation, Mode und Sozialstudie. Von 2020 bis 2021 lehrte sie als Gastprofessorin für Fotografie an der Bauhaus-Universität Weimar, 2022 an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. 2020 erschien ihr preisgekröntes erstes Buch „Das Erbe“, eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ihrer Familie. Im Oktober 2022 erschien ihr neues Buch „Habitat“, für das sie über zehn Jahre hinweg Menschen in ihren Wohnungen inszenierte und portraitierte. Zu unserer großen Freude hat sie sich im Rahmen der zweiten Ausgabe des hæßlig-Magazins für uns Zeit genommen und ein paar Fragen beantwortet. Veröffentlicht in: 02 | HOLY

INTERVIEWS

Klara Prautzsch, Lennart Wandsleb

10/18/20245 min read

Anne Schönharting, «Diera»
Anne Schönharting, «Diera»

haeßlig-Magazin: Gab es für dich einen Schlüsselmoment, in dem du wusstest, dass du Fotografin werden möchtest?

Anne Schönharting: Es gab wahrscheinlich zwei Schlüsselmomente. Es gab einen, da war ich glaube ich sechzehn. Mein bester Freund hatte sich damals eine Kamera gekauft und davon erzählt. Wir sind in der Dunkelkammer gewesen und er hat mir gezeigt, wie er die Bilder entwickelt. Das hatte etwas Magisches. Da hat man weißes Papier in die Entwicklerschalen gelegt und plötzlich erscheint das Bild, kommt langsam zum Vorschein. Das ist tatsächlich etwas sehr Wunderschönes, zu sehen, wie sich ein Bild physikalisch materialisiert. So begann für mich eigentlich die Fotografie. Das war zu einer Zeit, da fingen politische Umbrüche an, das war noch in der DDR. Es gab die ersten Demonstrationen und ich habe angefangen, meine Freunde zu fotografieren. Ich habe gar nicht unbedingt das politische Geschehen festgehalten, aber ich fand es irgendwie toll, mir die Außenwelt anzuschauen. Letztlich habe ich das Labor von dem Freund übernommen, er hatte irgendwann das Interesse verloren. Das hatte ich dann für eine kleine Miete im Monat, zusammen mit anderen Künstlern, und habe dort meine Fotos entwickelt. Ich habe angefangen mit Schwarzweiß-Fotografie und habe das ein paar Jahre so gemacht. Der zweite Schlüsselmoment war eigentlich die Initialzündung. Irgendwann hatte jemand, bei dem ich dann einen Job hatte, eine Mittelformatkamera. Die hat er mir ausgeliehen. Ich habe, um die Kamera zu testen, das erste Mal einen Farbfilm eingelegt. Das war dann schon nach dem Zusammenbruch der DDR. Da habe ich ein bisschen Alltag fotografiert, um meine Eltern herum, die waren aufs Land gezogen. Ich habe eigentlich Banalitäten fotografiert: Kinder, die auf der Straße spielen, der Nachbar, der seine Blumen gießt, jemand, der seinen Rollrasen im Garten auslegt. So sonderbare Dinge, die aber direkt in der Nachbarschaft bei meinen Eltern waren. Da habe ich ein paar Rollfilme fotografiert, sie mir angeschaut und dachte plötzlich: Das ist ja total interessant. Plötzlich habe ich gedacht, es ist genau das, was direkt vor meiner Nase ist. Das, was manchmal das Banalste und Alltäglichste ist, kann das Interessanteste sein und kann so viel über die Welt aussagen. Vorher war ich eher eine Suchende, ich habe zwar auch schon fotografiert und auch schon eine Leidenschaft gehabt, auf alle Fälle. Aber in dem Moment, in dem ich angefangen habe, in Mittelformat und Farbe zu fotografieren und mich wirklich für das zu interessieren, was fast banal ist, hatte ich das Gefühl, ich kann plötzlich alles dokumentieren und ich kann mir Gegenwart selbst aneignen, die Umwelt erforschen. Das war plötzlich wie eine Eintrittskarte in alle Welten, die mich interessieren. Und ich hatte jede Begründung der Welt, mich für alles zu interessieren, jeden anzusprechen und in jeden Bereich des Lebens zu gehen. {Diese frühe Fotoarbeit namens "Diera" ist auf der Webseite der Fotoagentur Ostkreuz zu sehen, Anm. d. Red.}

Diera - Ein deutsches Dorf, Sachsen, Mai 1997 bis März 1998, Deutschland ©Anne Schönharting / OSTKREUZ

Also war es das Dokumentarische, das dich früher am meisten an der Fotografie fasziniert hat?

Reine neutrale Dokumentarfotografie, da glaube ich eigentlich gar nicht mehr so richtig dran. Egal, wie man etwas beschreibt, man sieht immer auch die fotografische Position. Ich glaube es ist ganz selten, dass etwas völlig wertfrei daherkommen kann. Dokumentation ist ja die eigene Interpretation der Außenwelt. Dinge beschreiben, Dinge dokumentieren, aber nicht ohne Emotion, sondern mit einer eigenen Haltung, wie du die Welt siehst. Das kann man oft nicht so richtig trennen.

Sind es heute die gleichen Dinge, die dich noch an der Fotografie festhalten lassen?

Nein, das hat sich erweitert. Ich interessiere mich mittlerweile für das, was nicht sichtbar ist. Und das ist manchmal auch mein Dilemma. Weil ich mich eigentlich eher mit geistigen Prozessen beschäftige. Mein Themenspektrum ist deutlich breiter geworden. Innere Dinge in Bilder zu übersetzen, finde ich eigentlich mittlerweile fast interessanter, als nur die bloße Gegenwart zu beschreiben, ich entwickle mich eher weg davon. Ich inszeniere viel mehr und suche nach metaphorischen Ebenen, glaube ich. In gewisser Weise finde ich auch Surrealismus oder Dadaismus in zunehmendem Maße interessant, weil das eher etwas anstößt, als dass es wirklich Gegenwart abbildet.

Schwingt da auch der Anspruch mit, irgendwie eine spirituelle oder heilige Ebene der Welt abzubilden?

Das ist eine große Frage und ein großes Thema! Spiritualität hat mich immer schon interessiert, seit meiner Kindheit. Früher war das kirchlich, mittlerweile habe ich eher ein allgemeines spirituelles, philosophisches Interesse dem Leben gegenüber. Das schwingt dann einfach mit, das ist etwas, das meine Persönlichkeit prägt, und was sich eben vielleicht auch in meiner Arbeit zeigt. Ich sage meinen Studierenden auch immer: Beschäftigt euch nicht ausschließlich nur mit Fotografie, denn die Fotografie ist das Resultat von deinem eigenen inneren Prozess und den Themen, mit denen du dich beschäftigst. Etwas, das in kreativen Prozessen passiert, und das ist wirklich etwas Spirituelles, finde ich: In dem Moment, in dem man anfängt, zu fotografieren - das habe ich aber auch erzählt bekommen von anderen Künstlern, oder Menschen, die in einen schöpferischen Kreativprozess gehen - gibt es so einen Moment, wo man in einen Flow reinkommt. Wo es einfach durch einen durch fließt. Das kann man schwer rational beschreiben, was das ist. Das ist, als würde man an etwas andocken und dann geht es irgendwie los. Und das habe ich auch manchmal beim Fotografieren. Das sind sehr tolle Momente. Das hat man nicht allzu oft, aber das passiert. Man kommt dann wie in einen Rausch und das kann etwas Interessantes hervorbringen, finde ich.

Ist es schwierig für dich, dieses Gefühl mit einem Berufsalltag zu vereinen?

Das ist für mich eigentlich überhaupt nicht schwierig zu vereinen. Es gibt eine indische Richtung an Spiritualität, die nennt sich Integraler Yoga. Das bedeutet, dass man bei allem, was man tut im Leben, so gegenwärtig wie möglich ist. Und dass man vor allem vermeidet, wenn es irgendwie geht, Rollen zu spielen. Dass man immer sich selbst, mit allem, was man hat, total in die Gegenwart einbringt. Das ist für mich eigentlich die größte Übung. Und die Fotografie ist ein sehr gutes Mittel, um das zu üben. Bei der Portraitfotografie z.B. versuche ich, mit meiner größten Aufmerksamkeit mich dieser Person zu widmen, egal wer das ist und für was das ist, und einen guten Moment daraus entstehen zu lassen. Man kann es spirituell nennen oder «lebendiges Leben umsetzen». Fotografie ist für mich ein Ticket in verschiedene Lebensbereiche, um mir Dinge anzuschauen. Und das ist dann fast wieder ein Geschenk.

Ist das für dich auch mit Handyfotografie möglich?

Ich habe mich eigentlich nie mit Handyfotografie beschäftigt und es interessiert mich auch gar nicht.[1] Seitdem alle mit Handys fotografieren, habe ich manchmal das Gefühl, es wird noch weniger fest aufbewahrt. Es ist fast nicht möglich, diese unfassbaren Dimensionen an Datenmengen zu händeln. Es ist mir fast ein bisschen ein Rätsel, wie man da einen Umgang findet. Auch ich nutze die Handykamera, aber eher skizzenhaft, im Privaten. Bisher nie beruflich. Ich merke auch, wenn man durch einen richtigen Sucher guckt, von einer Spiegelreflexkamera zum Beispiel, siehst du alles andere nicht mehr rundherum. Du gehst ein bisschen wie in eine Blackbox und du schaust dir diese Welt ausschnitthaft an. In dem Moment, in dem ich die Kamera vor das Auge nehme, entsteht eine gewisse innere Stille in mir. Und dann kann ich anfangen, die Dinge klarer zu sehen.

[1] Lol. (Anm. der Redaktion)

Diera - Ein deutsches Dorf, Sachsen, Mai 1997 bis März 1998, Deutschland ©Anne Schönharting / OSTKREUZ